Die Schrecken von Solferino

Aus Rotkreuz Museum Innsbruck
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Henry Dunant, Eine Erinnerung an Solferino (1862)

Was für Todeskämpfe, was für leidvolle Szenen spielen sich in diesen Tagen des 25., 26. und und 27. Juni ab. Die Wunden sind durch Hitze und Staub, durch Mangel an Wasser und Pflege entzündet, und so werden die Schmerzen immer stärker. Erstickende Dünste verpesten die Luft … . Immer fühlbarer wird der Mangel an Hilfskräften, an Krankenwärtern und Dienstpersonal … Auf den steinernen Fliesen der Spitäler und Kirchen von Castiglione liegen Seite an Seite Kranke aller Nationen: Franzosen und Araber, Deutsche und Slawen. man legt sie einstweilen dort nieder, wo Platz ist, und sie haben nicht mehr die Kraft, sich zu bewegen und können sich auf dem engen Raum nicht rühren. Flüche, Lästerungen und Schmerzensschreie, die wiederzugeben die Sprache nicht fähig ist, hallen von den Gewölben der geweihten Räume wider. … Sie haben schwere Mühen ausgestanden, sie haben Nächte ohne Schlaf verbracht, dennoch können sie keine Ruhe finden. Verzweifelt flehen sie nach einem Arzt, sie werfen sich in Zuckungen hin und her, bis schließlich der Starrkrampf eintritt oder Tod sie erlöst. … Ihre Gesichter sind schwarz von Fliegen, welche sich auf den Wunden sammeln; ihre Blicke schweifen, verloren forschend, nach allen Seiten, ohne eine Antwort zu erhalten. Da sind einige, bei denen Mantel, Hemd, Fleisch und Blut eine unbeschreiblich schauervolle Mischung bilden, in die sich Würmer eingefressen haben. Viele erzittern bei dem Gedanken, von Würmern zernagt zu werden. … Dort liegt ein völlig entstellter Soldat, dessen Zunge übermäßig lang aus dem zerrissenen und zerschmetterten Kiefer heraushängt. … Ich benetze seine vertrockneten Lippen und seine verdorrte Zunge. Dann nehme ich eine Handvoll Scharpie, tauche sie in einen Kübel, den man mir nachträgt, und drücke das Wasser aus diesem Schwamm in die unförmige Öffnung, die die Stelle seines Mundes vertritt. …Ein Dritter, dessen Hirnschale weit offen klafft, liegt in den letzten Zügen. Sein Gehirn fließt auf die Steinfliesen der Kirche. Seine Unglücksgefährten versetzen ihm Fußtritte, weil er den Durchgang hindert. Ich schütze ihn in seinem Todeskampf und bedecke seinen armen Kopf, der sich noch schwach bewegt, mit einem Taschentuch.

„Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!“ schreit wild ein Gardegrenadier, der vor drei Tagen noch gesund und kräftig war, jetzt aber zu Tode getroffen ist. Er weiß wohl, dass seine Stunden unwiderruflich gezählt sind, aber er sträubt sich und kämpft gegen diese düstere Gewissheit. Ich spreche mit ihm, er hört mich an, er besänftigt sich, wird friedlich und getröstet und stirbt schließlich mit der sanften Unschuld eines Kindes. Hinten im Chor der Kirche, links in der Nische eines Altars, liegt auf dem Stroh ein afrikanischer Jäger. Er klagt nicht und rührt sich kaum. Drei Kugeln haben ihn getroffen; eine in die rechte Seite, eine in die linke Schulter und die dritte ist im rechten Bein steckengeblieben. … Er ist wirklich ekelerregend anzuschauen. Seine Kleider sind zerrissen und mit getrocknetem Kot und geronnenem Blut bedeckt. Sein Hemd hängt in Fetzen herunter. Nachdem ich seine Wunden gewaschen, ihm in wenig Fleischbrühe eingeflößt und ihn in eine Decke gehüllt habe, führt er meine Hand an die Lippen mit dem Ausdruck unendlichen Dankes. Am Kircheneingang liegt ein Ungar, der unentwegt pausenlos schreit und auf italienisch in herzzerreißendem Ton nach einem Arzt verlangt. Seine Hüften sind von einer Kartätschenladung durchschossen, wie durchfurcht von eisernen Haken. Das rote, zuckende Fleisch liegt offen da. Der Rest seines geschwollenen Körpers ist schwarz und grünlich. Er kann weder sitzen noch liegen. Ich tauche Büschel von Scharpie in frisches Wasser und suche ihm damit eine Art Lagerstätte zu bereiten. Aber ich weiß, dass Wundbrand ihn bald hinwegraffen wird. Nicht weit von ihm liegt ein Zuave, der heiße Tränen weint, und den man trösten muss wie in kleines Kind. …

Die Frauen von Castiglione erkennen bald, dass es für mich keinen Unterschied der Nationalität gibt, und so folgen sie meinem Beispiel und lassen allen Soldaten, die ihnen völlig fremd sind, das gleiche Wohlwollen zuteil werden. „Tutti fratelli“, wiederholen sie gerührt immer wieder. Ehre sei diesen mitleidigen Frauen, diesen jungen Mädchen von Castiglione. Es gab nichts, was sie zurückgeschreckt, erschöpft oder entmutigt hätte. Ihre bescheidene Hingabe kannte keine Müdigkeit und keinen Ekel; kein Opfer war ihnen zuviel.

Henry Dunant, Eine Erinnerung an Solferino. Hrsg. v. Österreichischen Roten Kreuz, Wien: Selbstverlag, 1997, S. 40-48.

⇨ Zurück zu den Quellentexten!


Ernst Pavelka