Die Gründung des SvE/KIT-Tirol

Aus Rotkreuz Museum Innsbruck
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Stressverarbeitung nach belastenden Einsätzen (SvE) und Krisenintervention (KI)

Krisenintervention besteht in einer akuten, anlassbezogenen psychosozialen Unterstützung nach traumatischen Krisen mit dem Ziel, Betroffene eines traumatisierenden Ereignisses, deren eigene Bewältigungsstrategien für die Verarbeitung unmittelbar nicht mehr ausreichen, innerhalb der ersten Stunden nach dessen Eintreten zu stabilisieren. Traumatische Krisen können durch den Tod, drohenden Tod oder eine schwere Verletzung/Erkrankung naher Bezugspersonen bzw. das Miterleben von Tod, drohendem Tod oder schwerer Verletzung/Erkrankung anderer Personen sowie die eigene schwere Verletzung/Erkrankung oder Lebensgefährdung ausgelöst werden (vgl. Barbara Juen et al.: Handbuch der Krisenintervention. Innsbruck: Studia, 22004, S. 13). Durchgeführt wird sie von speziell ausgebildeten psychosozialen Einsatzteams. Da die fragliche Unterstützung nicht nur unmittelbar Betroffenen eines traumatischen Ereignisses, sondern auch Einsatzkräften zur Verfügung steht, ist üblicherweise von „SvE/KIT“ (Stressverarbeitung nach belastenden Einsätzen/Kriseninterventionsteams) die Rede.

SvE-/KIT-Tirol und das Rote Kreuz Innsbruck

Zum ersten Mal mit der Idee von akuter psychosozialer Betreuung dürfte das Rote Kreuz Innsbruck im Feber 1995 in Berührung gekommen sein. In der Dienstausschusssitzung vom 08.02.1995 hatte der damalige Psychologiestudent, spätere Leiter des Referates Gesundheit und Soziale Dienste im Landesverband Tirol des Österreichischen Roten Kreuzes und heutige Privatdozent an der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie, Mag. Dr. Thomas Beck, dem Verein ein Ausbildungsprogramm „Krisenintervention im Akutfall“ zunächst mündlich angeboten. Es dürfte sich dabei auch um das früheste Auftreten des Begriffs „Krisenintervention“ in den Quellen des Archivs der Freiwilligen Rettung Innsbruck handeln.

Thomas Beck war von 1993 bis 1996 beim Deutschen Roten Kreuz in Karlsruhe gewesen, wo er angeregt durch Bernd Fertig eine Ausbildung in Krisenintervention unterlaufen hatte. In Deutschland war man damals in der Implementierung von Kriseninterventionsteams bedeutend weiter als in Österreich. In Österreich gab es zu diesem Zeitpunkt nur in Oberösterreich Initiativen in Richtung der Einrichtung von Kriseninterventionsteams, die aber ohne Netzwerk auskommen mussten. In Deutschland hingegen hatte man sich im Gefolge des 'Flugzeugunglückes auf der us-amerikanischen Luftwaffenbasis Ramstein vom 28.08.1988 vermehrt mit Fragen der psychosozialen Akutbetreuung von Opfern traumatisierender Ereignisse zu beschäftigen begonnen. Im Rahmen einer militärischen Kunstflugschau war es in Ramstein bei der Vorführung der italienischen Staffel Frecce Tricolori in 50 m Höhe und 300 m von den Zuschauern entfernt zu einem Zusammenstoß dreier Jets gekommen. Während zwei der Flugzeuge außerhalb des Zuschauerbereiches zu Boden gingen, eines von ihnen dabei allerdings einen Hubschrauber des Typs Black Hawk der amerikanischen Luftwaffe traf, überschlug sich die dritte Maschine, explodierte und rutschte letztlich ungebremst in die Zuschauer, die zudem von 800 Litern brennendem Kerosin überschüttet wurden. Bei dem Unfall starben 70 Menschen. An der psychosozialen Betreuung der Betroffenen waren damals unter anderem drei Pioniere der Krisenintervention, das Ehepaar Hartmut und Sybille Jatzko sowie der Notfallseelsorger Hanjo von Wietersheim beteiligt gewesen. Die Jatzkos hatten in Deutschland bereits Kurse in SvE/Krisenintervention durchgeführt. Nach „Ramstein“ war jedoch klar, dass das Angebot auf breitere Beine gestellt werden müsste. Anfang der 1990er-Jahre begann man daher zuerst in Karlsruhe, dann in Rottweil und München Kriseninterventionsteams auch in den Regelrettungsdienst zu integrieren.

Im April 1995 wiederholte Dr. Beck sein Angebot an das Rote Kreuz Innsbruck – diesmal schriftlich. Das Schreiben war eine Reaktion auf eine Ausschreibung zur Sammlung von Ideen zur inhaltlichen und organisatorischen Weiterentwicklung der Freiwilligen Rettung Innsbruck in der Mitgliederzeitschrift Info aktuell von März gewesen, die im Rahmen einer Bearbeitung von größeren Themen in Arbeitsgruppen erfolgt war. Beck bot darin ein aus acht Einheiten zu je drei Stunden bestehendes Einführungsseminar mit dem Titel „Psychologische Betreuung im Rettungsdienst“ an. Bei dem „Fachseminar“ handelte es sich um eine Adaptierung einer in Deutschland gerade als Voraussetzung zur Absolvierung der Krisenhelferausbildung eingeführten Veranstaltung. Die Lehrinhalte umfassten Grundlagen psychologischer Prozesse, Psychopathologie, klientenzentrierte Gesprächsführung nach Rogers sowie praxisnahe Übungen. Am 30.06.1995 wurde das Seminar schließlich ausgeschrieben und ging wahrscheinlich im September 1995 offenbar gut besucht über die Bühne.

Obwohl das Seminar von Thomas Beck nicht die Geburtsstunde eines Kriseninterventionsteams beim Roten Kreuz Innsbruck darstellt, mag es die Vorstellung, was man sich unter „psychosozialer Akutbetreuung“ vorzustellen hätte, unter den Mitgliedern konkretisiert und ihnen auch etwas Handwerkszeug im Umgang mit Betroffenen von traumatisierenden Ereignissen im Rettungsdienst vermittelt haben. Die Wurzeln indes des Kriseninterventionsteams Tirol und damit eines SvE/KIT bei der Bezirksstelle Innsbruck-Stadt des Österreichischen Roten Kreuzes liegen in der 1996 erfolgten Gründung der Arbeitsgruppe Notfallpsychologie des Instituts für Psychologie der Universität Innsbruck insbesondere durch ao. Univ.-Prof. Dr. Barbara Juen, welche die Forschungsgruppe noch heute leitet, und andere.

Als im Feber 1999 mehrere Lawinen auf Galtür und Valzur im Paznauntal niedergingen, die neben einer von der Außenwelt abgeschnittenen Ortschaft insgesamt 38 Todesopfer und zahlreiche Verletzte zur Folge hatten, waren Mitglieder der Arbeitsgruppe Notfallpsychologie über den Verein PAS – Psychologisches Akutservice vor Ort. Sie trafen dort auf Vertreter des ebenfalls im Katastropheneinsatz stehenden Tiroler Rote Kreuzes. Im Austausch miteinander wurde erkannt, dass es einerseits der Arbeitsgruppe Notfallpsychologie an Einsatzorganisation und Kommandostruktur, die das Rote Kreuz sowohl zur Bewältigung von Großunfall- und Katastrophenlagen als auch zur Disponierung von Einsätzen unter der Katastrophenschwelle bieten konnte, mangelte, sie andererseits aber den wissenschaftlichen Hintergrund und das psychologische Know-how bereitstellen konnte, derer das Rote Kreuz zum Aufbau, zur wissenschaftlichen Begleitung, Fortbildung und Qualitätssicherung von Kriseninterventionsteams dringend bedurfte. Letztere entsprechen noch heute den Aufgaben der Arbeitsgruppe Notfallpsychologie. Man beschloss, gemeinsam zunächst beim Landesverband Tirol unter der Ägide des Referates Gesundheit und Soziale Dienste (GSD) des Österreichischen Roten Kreuzes ein Kriseninterventionsteam aufzubauen, um dann SvE-/KIT-Teams in den einzelnen Bezirksstellen nach und nach zu implementieren. Ziel dieser Teams sollte die psychologische Betreuung von Opfern und Angehörigen nach belastenden Einsätzen ebenso wie durch Einsätze belasteten Personals auch unterhalb der Katastrophenschwelle sein.

Kurz nach dem Einsatz im Paznauntal begann sich diese erste Kriseninterventionsgruppe selbst auszubilden. Anhand des Selbstausbildungsprogrammes wurde ein Curriculum für einen ersten Kurs erstellt. Ab 02.10.1999 bildete sie fünfzehn Psychologen, Theologen und Pädagogen in der psychosozialen Akutbetreuung aus, zwölf schlossen die Ausbildung ab. Diese umfasste neben den einschlägigen psychologischen Inhalten auch Mitfahrdienste im rettungsdienstlichen Fahrdienst. Es war das Verdienst des damaligen Bezirksrettungskommandanten Herbert Kahler, die Ausbildung zum Roten Kreuz Innsbruck-Stadt gebracht zu haben. Durchgeführt wurde sie im organisatorischen Bereich der Ausbildungsabteilung unter Martin Breiteneder. Ab März 2000 stellte das zwölfköpfige Team zunächst noch unter der Bezeichnung „Psychosozialer Betreuungsdienst“ beim Roten Kreuz Innsbruck erstmals einen von Freitag, 20 Uhr, bis Sonntag, 20 Uhr, gehenden Bereitschaftsdienst. Die Dienstschichten wurden von Teams zu jeweils zwei Mitarbeitern besetzt, die Alarmierung erfolgte über die Bereichsleitstelle Tirol Mitte, zur Anfahrt stand ein Fahrzeug des Roten Kreuzes Tirol zur Verfügung. Das Versorgungsgebiet umfasste das Einzugsgebiet des Bezirksstelle Innsbruck-Stadt des Österreichischen Roten Kreuzes.

Einsatzindikationen waren und sind:

  • Betreuung der Angehörigen bei Todesfällen und erfolglosen Reanimationen im häuslichen Bereich
  • SIDS (Sudden Infant Death Syndrom)
  • Betreuung der Angehörigen nach Abtransport lebensgefährlich Erkrankter oder Verletzter
  • Betreuung der Angehörigen vermisster Personen
  • Betreuung von Kindern nach Abtransport der einzigen Bezugsperson
  • Betreuung von Opfern und Angehörigen von Opfern von Gewaltdelikten (auch bei Geiselnahme und Amok lauf)
  • Betreuung von Unfallverursachern (z. B. KFZ-Lenker, der einen Fußgänger überfahren hat)
  • Großunfall (zahlreiche beteiligte Personen und/oder Angehörige und Einsatzkräfte)
  • Großveranstaltungen mit vorhersehbaren oder bereits eingetretenen Zwischenfällen
  • Leichtverletztenbetreuung
  • Begleitung der Exekutive bei Überbringung von Todesnachrichten
  • Besondere psychiatrische Ausnahmesituationen wie Betreuung der Angehörigen bei Zwangseinweisungen, Suizidandrohung, Suizidversuch und vollzogener Suizid.
  • Auf Wunsch kann auch eine Betreuung und Nachbetreuung von Einsatzpersonal nach belastenden Einsätzen erfolgen

Als ein Vorläufer des erstmals in Tirol beim Roten Kreuz Innsbruck eingerichteten Kriseninterventionsteams kann ein von der Rotkreuz-Bezirksstelle Kufstein im Jahre 1997 ins Leben gerufener „Psychologischer Notdienst“ gelten, dessen einzige Einsatzindikation aber die Akutbetreuung von Angehörigen nach Reanimationen war – was in der damaligen Zeit schon als viel angesehen werden kann! Dieser stand zum SvE/KIT-Tirol' allerdings in keinem Zusammenhang. Am 12.10.2000 startete der erste Kriseninterventionskurs für Mitglieder des Roten Kreuzes Innsbruck. Zu Beginn waren 16 Teilnehmer angemeldet, von denen acht zum Stammpersonal der Bezirksstelle gehörten. Einen Monat später wurden auch in Lienz bereits Krisenhelfer ausgebildet. Am 11.11.2000 begann an der Rotkreuz-Bezirksstelle Lienz als zweiter Dienststelle nach jener in Innsbruck ein SvE/KIT-Kurs. Der Kurs musste unterbrochen werden, weil sich am ersten Kurstag die Brandkatastrophe der Gletscherbahn in Kaprun, bei der 155 Menschen starben, ereignete und die Ausbildner – unter ihnen Thomas Beck – in ihrer Funktion als Mitglieder des SvE/KI-Teams Tirol vom Kurs weg zur Unglücksstelle eilten.


Ernst Pavelka, 12.10.2020